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rik Februar / März 2022

24 Gesellschaft aufgrund

24 Gesellschaft aufgrund des Holocausts zu machen. Das Judentum habe eine aggressive Rachekultur, was nicht mit weiblichen Perspektiven verbindbar sei. Es sei der Ursprung des Patriarchats, „was natürlich richtig absurd ist, denn es heißt ganz oft, der Nationalsozialismus war eine Extremform des Patriarchats. Wenn man das zu Ende denkt, sagt man letztendlich, dass Jüd*innen selbst schuld wären am Nationalsozialismus“, sagt Antmann, hörbar in Rage. Überrascht von den Reaktionen auf ihr Auftreten werden die Frauen immer aktivistischer. Mit angeklebtem Bart und Schläfenlocken besuchen sie die Berliner Lesbenwoche, um mit jüdischen Stereotypen zu brechen, halten Informationsveranstaltungen ab, bieten Workshops an. Regelmäßig kracht es, wenn der Name der Gruppe im Programmheft auftaucht. Zum Druck von außen kommt noch der Druck von innen – die Mitglieder sind miteinander sehr vertraut. „Und irgendwann ist es dann implodiert“, sagt Antmann. Auf das Ende des Schabbeskreises 1989 folgt ein großes Loch in der queer-jüdischen Identitätsfindung. Durch die Zuwanderung der Flüchtlinge aus der Sowjetunion steigt zwar die Zahl der Jüd*innen in Deutschland und damit auch die Zahl der queeren Jüd*innen. Doch die Gruppe hat eigene Sorgen: „Diese Generation hatte als Thema, hier irgendwie zurechtzukommen, anzukommen, eine eigene Identität jenseits von ,den Juden‘ zu finden“, sagt Antmann. Nach und nach gründen sich vereinzelt Gruppierungen, bei Organisationen wie dem jüdischen Feministinnennetzwerk Bet Debora werden auch queere Themen mitverhandelt. Yachad als erste Vereinigung schwuler, lesbischer und bisexueller Jüd*innen in Deutschland entsteht, löst sich aber Ende der 2000er wieder auf. „Ich denke, damals war die Zeit noch nicht reif“, sagt Schwartze. Erst in den letzten fünf Jahren formt sich wieder eine von außen wahrnehmbare Bewegung. „Wir haben plötzlich ganz klar sichtbare, fordernde jüdische Stimmen, die in verschiedene Richtungen gehen“, sagt Antmann. Die Generation der Angekommenen, die der Millennials wolle sich nicht länger mit der Situation abfinden, sondern sich eigene Räume erschließen. Auch Antmann hat eine jüdische FLINT-Gruppe gegründet, in der sie und andere ihre Erfahrungen als queere Jüd*innen teilen. „Wir haben uns das Ziel gesetzt, queeres jüdisches Leben sichtbar und selbstverständlich zu machen“ ZWEI IDENTITÄTEN, DIE NICHT ZUEINANDER PASSEN? In diesem Klima entsteht 2018 Keshet als explizit alle queeren Facetten einschließender Verein, zum ersten Mal auch offiziell anerkannt und finanziell unterstützt vom Zentralrat der Juden. Die queer-jüdische Gruppierung möchte einen Raum schaffen für die Bedürfnisse von LGBTIQ*-Jüd*innen, die bisher oft übergangen wurden. „Wir haben uns das Ziel gesetzt, queeres jüdisches Leben sichtbar und selbstverständlich zu machen“, erklärt Monty Ott, der den Verein zusammen mit Leo Schapiro und Dalia Grinfeld ins Leben rief. „Ich habe damals in Hannover gelebt und mir hat es immer an einer Ansprechstation gefehlt. So geht es, glaube ich, sehr vielen, die nicht in Berlin leben. In Hannover gab es keine queer-jüdische Community, dementsprechend mangelte es an Orten, wo man darüber sprechen konnte, was es bedeutet, queer und jüdisch zu sein“, sagt Ott. Inzwischen hat der Verein über 100 Mitglieder und ist in Berlin, München, Nordrhein-Westfalen und in der Rhein- Main-Gegend aktiv. In den vergangenen drei Jahren hat das Team von Keshet Veranstaltungen und Workshops organisiert, Stammtische sowie gemeinsame Schabbat-Feiern abgehalten und ist beim CSD mitgelaufen. Doch Keshet hat auch eine politische Agenda: „Wir wollen auf die jüdischen Gemeinden einwirken und ein Bewusstsein für queere Themen schaffen“, sagt Friedländer. Ein wichtiger Ansatz sei dabei die Jugendarbeit: „In den jüdischen Gemeinden ist die Jugendarbeit, wie zum Beispiel durch Freizeitfahrten und Jugendzentren, ein wesentlicher Bestandteil. Natürlich ist uns wichtig, in diesen Bereichen Aufklärungsarbeit zu leisten“, sagt Friedländer. „Denn die Jugendlichen bekommen dort vermittelt, ob sich jüdische und queere Identitäten miteinander verbinden lassen. Wenn aber queere Themen negiert oder verschwiegen werden, entsteht das Gefühl, wie es bei uns damals entstanden ist. Nämlich, dass dieser Aspekt in diesem Rahmen nicht erwünscht sei. Deswegen müssen wir präventiv bei den

Jugendlichen anfangen, um gar nicht erst den Eindruck zu erwecken, diese Themen hätten im jüdischen Raum keinen Platz.“ Bei Keshet können queere Jüd*innen so sein, wie sie sind. „Ich habe meine religiöse und meine queere Identität immer voneinander abgespalten. Es waren zwei unterschiedliche Rollen, die nicht zueinander zu passen schienen“, erzählt Friedländer. Er ist seit 2019 bei der Keshet-Gruppe in Nordrhein-Westfalen aktiv. „Ich hatte Schwierigkeiten, das Religiöse mit dem Queeren zu verbinden“, erklärt er. Bei Keshet sei das anders. „Ein Schlüsselmoment war, als ich mich fragte: ,Rede ich jetzt mit einer jüdischen oder mit einer queeren Person? Ach stimmt, sowohl als auch.‘“ Am Anfang kam es dem Anwalt sogar komisch vor, seine beiden Identitäten miteinander zu verbinden. „Sonst habe ich mit andern Juden beispielsweise über die Vorbereitung von Festtagen gesprochen, also über religiöse, kulturelle Dinge, aber nicht, welchen Mann ich sexy finde“, sagt Friedländer. In seiner Gemeinde spielte Homosexualität keine Rolle: „Wenn niemand etwas hören will, erzählt man auch niemanden etwas davon. Es ist nicht so, dass ich etwas verheimlicht habe, aber es ist einfach kein Thema“, sagt Friedländer. Auch in anderen Religionen wie dem Christentum sind queere Gläubige oft nicht sichtbar oder, schlimmer noch, werden ausgeschlossen. So verbot Papst Franziskus nach einem zunächst scheinbar wohlwollenden Umgang mit Homosexualität im März dieses Jahres die Segnung homosexueller Paare. Auch im Judentum gibt es kritische Stimmen gegen Homosexualität, vor allem aus orthodoxen Gemeinden. „Je konservativer, je traditioneller, je dogmatischer die Ausgangsquelle, bei uns die Tora, ausgelegt wird, desto weniger Raum gibt es für queere Identitäten. So ist es in vielen Religionen, im Judentum genauso wie im Christentum oder im Islam“, sagt Friedländer. Im Judentum gibt es viele verschiedene Strömungen, die größten sind die orthodoxe, die konservative und die liberale. Die meisten Gemeinden in Deutschland werden orthodox geführt. „Deswegen spielen queere Themen oft keine Rolle“, erklärt Friedländer. Doch immer häufiger gründen sich liberale Gemeinden. „Dort wird die queere Identität als selbstverständlich angenommen, da gibt es auch queere Rabbiner*innen“, sagt Friedländer. „Ich würde schon sagen, dass es von den Strömungen abhängig ist, wie queere Themen aufgenommen werden. Aber es kommt auch auf den Ort an“, sagt Schwartze. Als Beispiel nennt sie die David Friedländer „Wir erwarten nicht, dass jetzt jeder orthodoxe Rabbiner queere Trauungen vornimmt. Das wäre natürlich toll, ist aber unrealistisch“ Berliner Gemeinde Fraenkelufer. Dort werden zwar Gottesdienste nach orthodoxem Ritus abgehalten, doch die Gemeinde „ist ein offener Ort für Queers, da findet ganz viel statt.“ So wird dort 2019 der erste deutsche Pride Shabbat in einer konservativen Gemeinde gefeiert. Bei dem gemeinsam zelebrierten letzten Tag der Woche gab es ein rituelles Abendessen, mit Liedern, Lesungen aus der Tora und natürlich Regenbogenflaggen mit Davidsternen. „Die Regenbogenflaggen sollen ein Zeichen setzen, sind aber nicht der Hauptunterschied zu einem normalen Shabbat. Was einen Pride Shabbat ausmacht, sind die Menschen, die einen gemeinsamen Wertekanon leben und queeren Personen einen Safe Space geben. Wir wollen allen das Gefühl vermitteln, hier willkommen zu sein. Insbesondere denjenigen, die sonst nicht zum Shabbat gehen, weil sie sich nicht angenommen fühlen“, sagt Friedländer. SECHS GESCHLECHTER IM TALMUD Wie so vieles im Judentum ist die Integration von queeren Lebensmodellen und Gläubigen vor allem Auslegungssache. Zwar stellt der Talmud als eine der wichtigsten jüdischen Schriften, die viele Glaubensregeln auslegt, sexuelle Handlungen abseits der Ehe als Sünde dar. Aber es gibt kein Dogma im Judentum, keine Perspektive ist unfehlbar, wie es etwa in der katholischen Kirche die Meinung des Papsts ist. Wissen entsteht durch Diskussion. „Das Judentum verlangt von sich selbst eine gewisse Dynamik und Pluralität ab“, sagt Antmann. „Wir lesen Gesellschaft 25 jedes Jahr die Tora, weil die Annahme ist, dass wir niemals den gleichen Text lesen.“ Abhängig davon, wer wo und wann den Text lese, verändere sich dessen Bedeutung. Die Auslegungen erlauben es, dass die jahrtausendealte Religion immer neue Perspektiven einnehme. Antmann glaubt, dass sich so auch Torapassagen wie Levitikus 18.22 erklären lassen. Darin heißt es: „Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Gräuel.“ Dabei könne es zum Beispiel um verschiedene Herrschaftsverhältnisse gegangen sein oder um eine gerechte Ressourcenverteilung. Im Gegensatz zu solchen Textpassagen, die sich durch das Alte Testament auch in der Bibel finden lassen und noch immer stark diskutiert werden, sind die religiösen Bücher im Judentum in anderen Abschnitten deutlich offener für queere Perspektiven. „Im Judentum hat man festgestellt, dass es mit Geschlecht ein bisschen komplizierter ist“, erzählt Antmann. Im Talmud tauchen neben den als cis-männlich und cis-weiblich interpretierten Geschlechtern noch vier weitere Geschlechter oder Geschlechtsvariationen auf. Sie weisen ein eigenes Selbstverständnis und körperliche Merkmale auf, die möglicherweise trans* oder inter* Personen repräsentieren könnten. Während bei einigen Gemeinden diese Auslegung schon angekommen ist, wird es in anderen wohl noch ein langer Weg sein, bis queere Jüd*innen vollständig akzeptiert sind. Aber darum geht es auch nicht unbedingt. „Wir erwarten nicht, dass jetzt jeder orthodoxe Rabbiner queere Trauungen vornimmt. Das wäre natürlich toll, ist aber unrealistisch“, sagt David Friedländer. „Aber bei den zahlreichen Diskussionen, die das Judentum immer wieder mit sich selbst führt, wollen wir ein Faktor sein.“ Sodass irgendwann alle queeren Jüd*innen ernst genommen, mitgedacht, einbezogen werden – sowohl in den jüdischen Gemeinschaften als auch in den queeren Communitys. *Astrid Benölken und Tobias Zuttmann

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blu, hinnerk, gab, rik, Leo – die Magazine der blu Mediengruppe erscheinen monatlich in den Metropolen Deutschlands. Die nationale Reichweite der Magazine ermöglicht den reisefreudigen Lesern Zugriff auf alle Informationen immer und überall. Themenschwerpunkte sind neben der regionalen queeren Szene, Kultur, Wellness, Design, Mode und Reise. Unsere Titel sind mit der lokalen Community jahrzehntelang gewachsen und eng verbunden, was durch Medienpartnerschaften mit den CSD-Paraden in Hamburg, Berlin, München und Frankfurt sowie zahlreiche Kooperationen, wie der Christmas Avenue in Köln, seinen Ausdruck findet.