hiv DIE DUMMEN VIREN und meine erste Depotspritze Seit ich 2011 positiv getestet wurde, verfolge ich die Entwicklungen im HIV-Bereich noch intensiver. Wer sich einen tödlichen Virus einfängt, der nicht mehr aus dem Organismus verschwindet, wird notgedrungen neugierig. Und auch etwas paranoid. Schließlich will man das Virus nicht weitergeben und sich selbst und andere schützen. Zur Behandlung meiner Infektion nahm ich täglich Tabletten ein. Nun gibt es als Alternative die Depotspritze. Damit werden die Wirkstoffe, die die Viruslast bis unter die Nachweisgrenze senken, injiziert. Sie hält bis zu zwei Monate lang. Ein Segen? Spoiler: Für mich schon. Warum, will ich euch erklären. KEIN LUXUSPROBLEM Medizinisch notwendig ist der Therapiewechsel nicht. Aber um Veränderung herbeizuführen, muss man die Dinge auch anders angehen. Aus verschiedenen Gründen kann ich die Tabletten nicht mehr sehen. Sie erinnern immer an die Infektion. Und auf die gut gemeinten verständnisvollen Blicke der Sicherheitskräfte an Flughäfen, wenn sie beim Handgepäck-Check sehen, dass ich wohl irgendwie chronisch krank sein muss, kann ich ebenfalls verzichten. Ich bin ein haptischer Mensch und bei aller Dankbarkeit darüber, dass mir die Medikamente so überhaupt zur Verfügung stehen, bin ich es leid, sie jeden Tag auf der Zunge zu spüren, bevor ich sie runterschlucke. Ich fragte also meinen Hausarzt, ob diese neue Therapieform für mich infrage käme. Da ich meine Tabletten regelmäßig einnehme und immer brav zur Blutuntersuchung erscheine, war dies kein Problem. Vorherige Tests haben gezeigt, dass mein Körper die Wirkstoffe gut verträgt und es keine Resistenzen gibt. Das heißt, sie tun das, was sie sollen: die Viren bekämpfen. Für mich ändert sich lediglich das Medikament und wie es verabreicht wird. Und nach etwa drei Wochen Vorbereitungszeit bekam ich schließlich meine erste Dosis in die Po-Muskeln gespritzt. TAG DER SPRITZE Der Termin zur ersten Injektion fiel mitten in die vierte Corona-Welle. Bis zur Straße standen die Booster-Willigen in der Praxis im zweiten Stock an. An der Schlange vorbei verfolgten mich giftige Blicke bis ins Wartezimmer und die Stimmung war so angespannt, dass man sie durchschneiden hätte können. War ich in einer Impfpraxis oder bei McDonalds? Zu jeder Pandemie gehört wohl ein Maß an Aggressivität. Doch mein Arzt ließ sich nicht stressen. Er gab mir die nötige Beratungszeit und auch direkt einen Termin für die nächste Spritze, die dann sogar zwei Monate wirkt. Ich verstand alle Informationen und während in den Kabinen neben mir die zurzeit krasseste neue wissenschaftliche Errungenschaft, die Corona-Impfung, gespritzt wurde, erspritzt man mir meinen ersten pillenfreien Monat seit gut zehn Jahren. NACHWEHEN Der Abend verlief schräg. Jahre der Anspannung fielen ab und zum Feiern habe ich mir Wein gegönnt. Am nächsten Morgen saß der Kater fest und schlich bis in den Nachmittag um mich herum. Die einzige Nebenwirkung der Spritze war allerdings die Erinnerung an meine Angst vor einer Erkrankung. Als ich die Diagnose erhielt, 44 CHECK NORD #4
hiv dachte ich nicht, dass ich sterben würde. Ich hatte Panik davor, nicht mehr richtig leben zu können. Dieses Gefühl bin ich nie richtig losgeworden, auch wenn es über die Jahre ein zahmer Begleiter wurde. Ich gehe davon aus, dass solche Gedanken in meinem Alltag erst einmal nicht mehr auftauchen. Die Tabletten waren immer sichtbar in meiner Küche platziert, strategisch nah an Dingen, die ich immer benutze, um sie bloß nicht zu vergessen. Jetzt sind sie in meiner Medikamentenbox mit Pflastern und Kopfschmerzmitteln. Ich soll sie aufbewahren und kann sie jederzeit wieder nehmen, etwa wenn ich den Termin zur nächsten Depotspritze nicht wahrnehmen kann. Es gibt ein Fenster von rund sieben Tagen, dann lässt wohl die Wirksamkeit nach. Verpassen werde ich das garantiert nicht. ANGST UND UNSINN Die Angst vor einer Ansteckung mit HIV erlebt wohl jeder Schwule mindestens einmal im Leben. Die Freude über eine Depotspitze eher wenige. Gelegentlich denke ich, dass ich zu wissenschaftsgläubig bin. Aber die vielen alternativen Theorien über HIV und die böse Pharmaindustrie haben mich nicht wirklich beirrt, eher gestärkt und teils amüsiert. Besonders die Theorie, dass es HIV gar nicht gibt und dass das Immunsystem von Homosexuellen nicht mehr funktioniert, weil sie so sehr unter Diskriminierung leiden. Ich vertraue neuen Pharmaprodukten, die zugelassen wurden. Gleichzeitig liebe ich enthüllende Dokumentarfilme und habe auch welche über die Pharmaindustrie gesehen. Aber selbst in einem Rosengarten wächst Foto: Krakenimages.com/stock.adobe.com Unkraut. Vielleicht muss man im Zeitalter der Rechenschaftspflicht einfach mehr und bessere Gärtner*innen einstellen? Es gibt viele positive Stories. Wie die der englischen Dame, die eine von ihr betreute PrEP-Studie unterbrach, weil der Erfolg nach so kurzer Zeit so deutlich sichtbar war. Sie hielt es für verantwortungslos, den Menschen in der Kontrollgruppe, die die PrEP als Vergleich nicht nahmen, diesen Schutz vor HIV vorzuenthalten. Wie viele Ansteckungen hat sie damit verhindert? Um das zu beantworten, um sich dazu eine fundierte Meinung bilden zu können, müssten erst wieder Statistiken ausgewertet werden. Und bevor man sich versieht, sitzt man mit seinen eigenen Ängsten und Vorurteilen in einer imaginären Talkshow. Ich verstehe, dass alternative Theorien definitiv mehr Spaß machen als eine Infektion oder deren Behandlung, oder das pausenlose Forschen und Recherchieren an einer Lösung für das gesundheitliche Problem. Können wir nicht einfach ein Mittel erfinden, das die ganze Welt von allem heilt und niemanden mehr krank werden lässt? Es würde alles so viel mehr Spaß machen. Wenn da nicht diese dummen Viren wären. (ts) CHECK NORD #4 45
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