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blu März / April 2025

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FILMINTERVIEWALAIN

FILMINTERVIEWALAIN GUIRAUDIE –MISERICORDIASchon lange gehört Alain Guiraudie zu den spannendsten schwulen Regisseuren des französischen Kinos. Spätestensder außergewöhnliche Erotikthriller „Der Fremde am See“, der 2013 in Cannes mit dem Regie-Preis und derQueer Palm ausgezeichnet wurde, machte ihn auch international bekannt. Nun legt der 60-Jährige mit „Misericordia“(ab 6.3. im Kino) seinen neuen Film vor – und findet in der Geschichte eines Mannes, der anlässlich der Beerdigungdes Vaters seines früheren Schulfreundes in sein Heimatdorf zurückkehrt, auch endlich mal wieder Platz fürschwulen Sex. Wir trafen ihn in Paris zum Interview.Monsieur Guiraudie, Ihrer neuer Film„Misericordia“ handelt – wie der Titelverkündet – von Barmherzigkeit, aberauch von sexuellem Begehren; er istThriller und Dorf-Drama gleichermaßen,von Hitchcock genauso inspiriertwie von Pasolinis „Teorema“. Womitnahm diese ungewöhnliche Geschichteihren Ursprung?Das lässt sich im Rückblick gar nicht sogenau sagen. Es ist nie so, dass ich eineeinzelne Idee habe, die ich zu Papierbringe und mit der dann alles anfängt.Meine Arbeitsmethode ist eher eine, wiesie auch der Schriftsteller Michel Houellebecqmal beschrieben hat. Ich knetein meinem Kopf verschiedene Ideen undZutaten so lange, bis sich irgendwie eingeschmeidiger Teig zu formen beginnt.Erst dann setzte ich mich überhaupt hinund beginne zu schreiben.Dann fragen wir mal so: was waren diewichtigsten Zutaten?Natürlich waren die Figuren entscheidend.Nicht nur den ProtagonistenJérémie hatte ich früh im Kopf, auchandere Personen, die in diesem Dorfleben, wo die Geschichte spielt. Abervielleicht könnte man sagen, dass dasDorf selbst das war, was als erstesdurch meine Gedanken spukte. Gepaartmit Erinnerungen an meine Kindheitund Jugend, die dann im Laufe derDrehbucharbeit unterfüttert wurden mitEinflüssen aus Filmen und Roman, diemich über die Jahre inspiriert haben.Sie haben „Misericordia“ aber nicht indem Dorf gedreht, in dem Sie aufgewachsensind, oder?Nein, das nicht. Ich hatte beimSchreiben verschiedene Dörfer imKopf, das, in dem ich groß wurde, aberauch einige, in denen meine Freundewohnten. Gedreht haben wir dannin Sauclières, was zwar im gleichenDépartement, aber doch eine Eckeweiter weg liegt.Gerade erwähnten Sie Erinnerungenan Ihre Jugend, die die Geschichte desFilms inspiriert haben. Welche genaumeinen Sie denn, wenn diese direkteFrage gestattet ist?Zum Beispiel habe ich viel darübernachgedacht, wie oft man als Teenager,beim Erwachen der Pubertät,plötzlich Vater oder Mutter desbesten Freundes als sexuelles Wesenwahrnimmt und womöglich ein sehrbesonderes Verlangen nach ihnenentwickelt. Solche Gefühle stehenim Kern von „Misericordia“. Auch dieRangeleien, Prügel und Kämpfe, in dieJérémie immer wieder verstrickt ist, sindetwas, das natürlich sehr an die LebenundEmotionsrealität von Jugendlichenerinnert. Und nicht umsonst erinnertdie Welt des Films in vielerlei Hinsichtmehr an die Siebziger Jahre, in denenich groß wurde, als an unsere heutigeGegenwart.Es geht nicht nur um Gefühle für andererLeute Eltern, sondern allgemeinum unterdrückte Begierden und dasUnglück, das aus ihnen erwächst.

FILMSollte man daraus dieLehre ziehen, dasswir alle glücklicherwären, wenn wirimmer sagen, was wirfühlen?Nein, nein, daswollte ich mitdieser Geschichteauf keinen Fall sagen.Ich bin in einer Zeitund an einem Ortaufgewachsen, wonicht viel Worteverloren wurdenüber Emotionen undSehnsüchte. Ist es heute da draußen soviel anders? Vermutlich nicht, denn nurweil die Menschen auf Facebook ihrenGedanken ungefiltert freien Lauf lassen,heißt das noch lange nicht, dass dawirklich ihre innersten Begierden zutagetreten. Ich denke, es hat schon seinenSinn, dass es gewisse Tabus gibt undman nicht immer alles sofort ausspricht.Oder zumindest schützt uns das kaumvor unserem Unglück.Ausgerechnet der Priester geht hierjedenfalls am offensten damit um,was er will, obwohl er ja eigentlich ammeisten zu verbergen hätte …Die Kirche ist ja gerade auf dem Landimmer schon ein Zufluchtsort war fürhomosexuelle oder auch asexuelleMänner gewesen, die sich außer StandeFOTO: HÉLÈNE BAMBERGERFOTOS: SALZGEBERsahen, dentraditionellengesellschaftlichenErwartungen zuentsprechen undeine Familie zugründen. Als Figurin einem kleinenProvinzdorf fandich einen Priesterdeswegen besondersreizvoll, auchweil ich ihn ihm daskörperliche mit demeher spirituellenVerlangen vereinenkonnte. Als homosexuellerPriester weiß er ja mehr als alleanderen Figuren in dieser Geschichte,was es bedeutet, das eigene Begehrennicht auszuleben und ohne Gegenleistungzu lieben.Was die sexuelle Orientierung oderIdentität Ihres Protagonisten Jérémieangeht, bleiben Sie bewusst vage.Warum?Weil ich weder die Notwendigkeit sehe,dass wir Begehren und Liebe immer mitirgendwelchen Labels versehen, nochdas Gefühl habe, ich müsste meinemPublikum jede Kleinigkeit erklären. HatteJérémie wirklich eine Freundin, von derer sich getrennt hat? Wie genau sah inder Jugend die Beziehung zu seinembesten Freund aus? Was empfindet erfür dessen Mutter? All diese Fragen zubeantworten wäre doch langweilig. Auchden Schauspieler*innen wollte ich dieseAmbiguität nicht nehmen. Ich glaube,es ist für alle Beteiligten reizvoller, sichmit den Fragen zu beschäftigen als dieAntworten zu kennen.Ihr Hauptdarsteller Félix Kysyl ist eineechte Entdeckung. War es schwer, denrichtigen Schauspieler für diese Rolle zufinden?Oh, ja, das kann man wohl sagen. Ichhabe mir sehr viele Schauspieler angesehen,denn diese Rolle ist verdammtkomplex. Gerade weil vieles so vageund ungeklärt ist, was seine Gefühleund Beweggründe angeht. Ich brauchtejemanden, der gleichzeitig wie derliebe, nette Junge von nebenan, aberauch wie ein emotionslos heuchelnderSerienkiller wirken konnte. Félix begeistertemich dadurch, dass er sowohl dieengelsgleiche als auch die teuflischeSeite der Figur zum Vorschein bringenkonnte. Und dabei mit seinen 33 Jahrengeradezu alterslos wirkte. Man hätte ihmden Teenager genauso abgenommenwie einen mitten im Leben stehendenErwachsenen. Mit seiner Stimme undseinem Körper erweckte er Jérémie nochsehr viel nuancierter zum Leben, als ichmir das auf dem Papier hätte ausmalenkönnen.*Interview: Patrick Heidmann

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