MUSIK KOVACS WAHRHEITEN, DIE WEHTUN NACHGEFRAGT FOTO: ALEXANDRA VON FUERST
MUSIK Sharon Kovacs aus Eindhoven ist mit ihrer kräftig-sinnlichen Soulstimme der neue Star des europäischen Pop. Auf ihrem zweiten Album „Cheap Smell“ geizt die 28-Jährige nicht mit ihren großen und traurigen Gefühlen. Und sie begeistert nicht nur mit grandioser Offenheit, sondern auch mit großen Liedern. Das Fell ist weg. Die zottelige Kunstpelzmütze in Langhaarwolfsoptik, ohne die Sharon Kovacs jahrelang nicht aus dem Haus und schon gar nicht auf die Bühne ging, liegt nun zu Hause in Eindhoven unterm Bett. „Ich brauche die Fellmütze nicht mehr“, sagt Kovacs beim Treffen im Plattenfirmenbüro am Hackeschen Markt in Berlin. „Sie ist wie ein Spielzeug, mit dem ich nicht mehr spiele.“ Der Grund für die Nacktheit auf dem Haupt – Kovacs trägt das Haar seit elf Jahren raspelkurz, rasiert es dreimal die Woche – ist ein erfreulicher: „Ich konnte hinter der Mütze immer ein Stück weit im Verborgenen bleiben. Das muss ich jetzt nicht mehr. Ein wenig schüchtern bin ich immer noch, aber ich bin längst nicht mehr so unsicher wie am Anfang. Ich will mich nicht mehr verstecken.“ Nicht weniger deutlich als auf dem Kopf zeigt sich Kovacs’ neu gewonnene Offenheit auf ihrem zweiten Album „Cheap Smell“. Das erscheint drei Jahre nach dem Debüt „Shades of Black“, mit dem Kovacs nicht nur in ihrer niederländischen Heimat, sondern in weiten Teilen Europas für Furore sorgte. Das von Metal-Fachmann Oscar Holleman (Within Temptation) produzierte Werk war voller dunkler Popsongs wie „My Love“, als schwermütige Soul-Pop- Lady mit Rock- und Blues-Einflüssen fand Kovacs ein Plätzchen irgendwo zwischen Amy Winehouse, Lana del Rey und Billie Holiday. Aber Produzent Holleman verließ sie und nahm die Band mit, was Sharon vorübergehend in tiefe Verzweiflung stürzte. Außerdem lebt man in drei Jahren so einiges an Leben, erst recht, wenn man das Drama so ein bisschen aufsaugt, wie Kovacs es tut. Also „fühlt sich ‚Cheap Smell‘ für mich wie ein brandneuer Start an. Ich habe als Mensch manches durchgemacht und mich verändert. Außerdem hätte ich die erste Platte nicht einfach reproduzieren wollen.“ Mit ihrem neuen Co-Produzenten Liam Howe (bekannt unter anderem durch seine Arbeit für Marina And The Diamonds) hat die stimmgewaltige ehemalige Studentin des Rock City Institute in Eindhoven eine saustarke Platte gemacht, die musikalisch vielschichtiger ist: „Freakshow“ ist eine Art Flamenco-Ballade, „Adickted“ erinnert an den trotzigen Selbstbehauptungssoul einer Mary J. Blige, das leichtfüßige „Midnight Medicine“ an Madonnas „La Isla Bonita“. Und auch die Songinhalte sind jetzt nicht mehr ausschließlich düsterer Natur. „It’s The Weekend“ zum Beispiel ist sicher die unbeschwerteste Nummer, die Kovacs je gesungen hat. „Diesen Song habe ich in zwanzig Minuten geschrieben. Es geht einfach darum, am Freitagabend ein bisschen Gras zu rauchen und auszugehen. Das Lied ist oberflächlich und macht Spaß, aber das muss auch manchmal sein.“ Oberflächlichkeit ist ansonsten nicht Sharons Ding. Ihre Lieder sind so ehrlich und persönlich, dass es schmerzt. Die Frau, die als Kind gern auf Bäume kletterte, lieber mit Jungs als mit Mädchen spielte und androgyne Ikonen wie Grace Jones, Benjamin Clementine und David Bowie zu ihren großen künstlerischen Vorbildern zählt, wuchs ohne Vater auf, wurde von der Mutter ins Kinderheim abgeschoben und drohte in der Jugend zu versumpfen. „Ich war teilweise sehr unglücklich und orientierungslos“, sagt sie. Dass Kovacs zuletzt einige Jahre an ihrem Freund festhielt, der das Kokain mehr liebte als sie, war ebenfalls hart und ein wenig demütigend. Gleich fünf Songs von „Cheap Smell“ arbeiten diese toxische Beziehung auf. „Ich bin in den vergangenen drei Jahren zu vielen Therapiesitzungen gegangen, das hat mir geholfen. Ich habe insgesamt weniger Ängste als früher und sehe die Zukunft optimistischer.“ Was aber geblieben sei, ist ihre Furcht vor Zurückweisung: „Als meine Mutter mich mit elf ins Heim steckte, hat mich das für alle Zeiten beschädigt.“ Immerhin, zu der Mutter habe Sharon heute ein brauchbares Verhältnis („it’s okay“), und auch den Vater hat sie vor einiger Zeit kennengelernt. „Mama & Papa“ ist der großartige Gospel-Soul-Pop-Song, der nach dieser denkwürdigen Begegnung entstand. „Mein Dad lebt in Deutschland und ist ein extrem religiöser Evangelist. Er wollte mir den Teufel austreiben. Da bin ich gegangen. Er muss mich so akzeptieren, wie ich bin. Vorher will ich ihn nicht wiedersehen.“ *Steffen Rüth
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